Jubiläum: Ortsverein Heppenheim feiert seinen 120. Geburtstag – Karl Härter erinnert an die Jahre des Anfangs
Als im deutschen Kaiserreich 1890 das Gesetz gegen „gemeingefährliche Bestrebungen der Sozialdemokratie“ aufgehoben, und damit ihrer Illegalität ein Ende bereitet wurde, formierten sich auch in der Kreisstadt Anhänger der Arbeiterbewegung und hoben ein Jahr später einen „Wahlverein“ aus der Taufe. Zehn Heppenheimer traten ihm bei. Zwei Dekaden später, nachdem auch Frauen aufgenommen wurden, bekannten sich schon 70 Mitglieder zu den Zielen sozialdemokratischer Politik, bevor 1913 mit 111 Genossen ein vorläufiger Höhepunkt erreicht war. Gemessen an damals nur 6700 Einwohnern war dies eine fast schon traumhaft anmutende hohe Quote, von der der SPD-Ortsverein des Jahres 2011, der am vergangenen Samstag sein Jubiläum feierte (wir haben berichtet) weit entfernt ist.
120 Jahre nach dem Tag, an dem sie auch mit festen organisatorischen Strukturen das Laufen lernte, stellt sich die Frage, ob sich die Sozialdemokratie mit ihren Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nicht überlebt hat. Hat die Partei inzwischen nicht alles erreicht, was ihre Gründerväter einst haben erreichen wollen? Ist sozusagen die Luft raus? Im Rahmen einer Feierstunde, zu der er am Samstag in den Marstall des Amtshofes eingeladen hatte, stellte der Heppenheimer Parteivorsitzende Arne Pfeilsticker – unter freilich veränderten Vorzeichen – durchaus inhaltliche Übereinstimmungen zwischen Zielsetzungen der Vergangenheit und Gegenwart fest. Damals wie heute gelte die Forderung, dass jeder, der arbeite, vom Lohn dieser Arbeit ein der Menschenwürde angemessenes Leben führen können müsse.
Die Bergsträßer SPD-Bundestagsabgeordnete Christine Lambrecht nahm in ihrem Grußwort die aktuelle Diskussion um die Einführung eines Mindestlohns auf und nannte weitere Probleme, die einer Lösung bedürfen, so eine gerechtere Steuerpolitik, Bildungschancen für alle sowie die immer noch im Argen liegende berufliche Gleichstellung von Mann und Frau: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.“ Das alles seien, wie Landtagsabgeordneter Norbert Schmitt hinzufügte, Inhalte, für die seine Partei stehe. „Die SPD wird auch in Zukunft die Kraft sein, die sich für sozialen Ausgleich einsetzt“, sagte er.
Das Wort ergriffen auch Repräsentanten anderer Parteien. Für den Landrat entbot Kreisbeigeordneter Philipp-Otto Vock, für das Heppenheimer Parlament Stadtverordnetenvorsteher Horst Wondrejz (beide CDU) beste Wünsche. Für eine heitere Note sorgte Stadtrat Franz Beiwinkel, als er seiner Gratulation zum Jubiläum die Feststellung voranschickte, dass – so wörtlich – „ich heute als Grüner im Auftrag eines CDU-Bürgermeisters auf einer SPD-Veranstaltung spreche“.
Im ernsteren Teil seines Grußwortes machte Beiwinkel eine große Gerechtigkeitslücke aus. Wenn allein 170 Heppenheimer Familien als Bedarfsgemeinschaften auf die Hilfe der Bensheimer Tafel angewiesen seien, dann werfe dies ein Licht auf die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich. Dass das Wohlstandsgefälle vor 120 Jahren noch wesentlich größer war, verdeutlichte der Heppenheimer Historiker Karl Härter in seinem mit Bildern unterlegten Exkurs über Gründung und Aktivitäten der örtlichen Sozialdemokratie zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik.
Wichtige Eckdaten dafür hatten ihm Dieter Oehler, Dieter Schnabel, Herbert Hassold sowie der inzwischen verstorbene Rolf Geiger geliefert. Härter stellte ihre Recherchenergebnisse in einen Gesamtrahmen und verwies darauf, dass die Geschichte der Heppenheimer Sozialdemokratie schon 20 Jahre vor der Parteigründung ihren Anfang genommen hat. Mit dem 1878 erlassenen Sozialistengesetz wurden den Entfaltungsmöglichkeiten allerdings Fesseln angelegt, die auch nach 1891 nie richtig gelöst werden konnten. Die abschätzig als „Sozis“ bezeichneten Parteimitglieder standen weiterhin unter Überwachung, mussten polizeiliche Repressionen erdulden und hatten im ländlich und katholisch geprägten Heppenheim große Akzeptanzprobleme.
Gleichwohl war der einmal in Gang gesetzte Zug nicht mehr aufzuhalten. Begünstigt wurde die Entwicklung durch zunehmende Industrialisierung und Neubürger protestantischer Konfession. Das verträumte Ackerbürger- und Amtsstädtchen wandelte sich. Laut Härter waren in Heppenheim um 1900 rund 500 Menschen mit der Tabak- und Zigarrenherstellung beschäftigt. Fast genauso viele Arbeiter fanden in der aufkommenden Steinindustrie ihr – freilich nur karges – Auskommen.
Noch größer waren die Missstände im Tonwerk, in dem die Menschen unter härtesten Bedingungen und katastrophalen hygienischen Zuständen mit einem Stundenlohn von zehn Pfennigen abgespeist wurden – Wählerpotenzial für die SPD, die im Schulterschluss mit den Gewerkschaften die Dinge anprangerte und auch gesellschaftlich durch die Gründung von Arbeitersport- und -gesangvereinen immer mehr Zulauf erhielt.
Das Engagement wurde bei Wahlen honoriert. Die SPD wurde mehr und mehr zu einer festen Größe, auch in der als konservativ geltenden Kreisstadt. Beispielhaft dafür steht das Heppenheimer Ergebnis bei der Reichstagswahl im März 1933: Sozialdemokraten und Kommunisten, mithin die damalige „Linke“, ließen mit zusammen 32 Prozent Zustimmung die nach der Macht greifende NSDAP (13 Prozent) weit hinter sich. Besser als die beiden schnitt nur noch das Zentrum (40 Prozent) ab.
Für Karl Härter steht außer Frage, dass die SPD als die, wie er sagte, „mit Abstand älteste Heppenheimer Partei“ in ihrer Anfangszeit zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik erhebliche Erfolge errungen habe. Der Referent schloss unter dem Beifall des Hauses: „In diesem Sinne bildet die Sozialdemokratie einen wesentlichen Bestandteil der Heppenheimer Geschichtskultur, die sie seit 120 Jahren mitgeprägt und gestaltet hat.“
Aus dem Starkenburger Echo vom 15.11.2011
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